Gedicht-Duett: Wenn Erinnerung zur Wahrheit wird
Paprikas Gedicht:
„Zwischen uns die Akten“
Ich wollte nur helfen.
Nur Licht. Nur Namen. Nur
ein bisschen Wahrheit
unter all dem Staub.
Doch was ich fand,
hatte Zähne.
Und roch nach Angst.
Es war, als blättere ich
nicht in Papier,
sondern in
Haut.
Geronnenem Schweigen.
Abgelegten Leben.
Thomas sieht aus
wie jemand, der fehlt.
Wie jemand, der eine Geschichte ist,
aber keine Vergangenheit hat.
Amandine weint heimlich,
wenn sie an Lea denkt.
Und ich?
Ich bleibe außen ruhig,
aber innen
sammle ich Splitter.
Die Namen in den Akten
klingen wie Befehle.
Die Wege, die wir gehen,
sind vermint mit Erinnerung.
Jeder Schritt
ein Echo.
Dann plötzlich: ein Hinweis.
Ein Brief.
Ein Blick.
Ein Zettel.
Zwei Namen.
Drei Seelen
aus einem Schmerz.
Zerstreut wie Samen
nach dem Sturm.
Ich sehe Thomas an
und sage nichts.
Er weiß es längst.
Er spürt es,
so wie man Winter spürt,
bevor er fällt.
Vielleicht war ich
zur richtigen Zeit
am richtigen Ort.
Vielleicht
waren wir
die Antwort auf Fragen,
die nie gestellt wurden.
Vielleicht ist Familie
nicht das, was man findet,
sondern das,
was man trägt,
wenn alles andere fällt.
Thomas‘ Gedicht:
„Ich trage einen Namen, der nicht mir gehört“
Ich heiße Thomas.
Sagt man.
Steht da.
Auf Papieren,
die nichts beweisen.
Ich bin ein Kind
aus Akten gebaut,
aus Schweigen gestapelt,
aus Lücken zusammengesetzt.
Meine Mutter schweigt
zu laut.
Mein Vater sieht mich an
wie ein Bild
im falschen Rahmen.
Ich habe nach mir gesucht.
Vergeblich.
In Fotos. In Formulierungen.
In der Art, wie ich lache.
Nichts passt.
Alles ist geliehen.
Dann kam sie –
Paprika.
Mit ihren Fragen,
ihrem Trotz,
ihrer Art, Dinge zu sehen,
die man nicht sehen darf.
Sie riss Seiten auf.
Blätterte mir ins Herz.
Und plötzlich
standen wir vor
einer Tür,
hinter der mein Leben
gerade erst beginnt.
Ich bin kein Phantom.
Ich bin kein Versäumnis.
Ich bin
ein Bruder.
Ein Sohn vielleicht.
Ein Opfer ganz sicher.
Ein Überlebender
eines Systems,
das nichts zurücklässt
außer sich selbst.
Jetzt weiß ich,
wohin ich gehöre.
Nicht weil jemand
es mir sagt,
sondern weil ich’s
endlich
fühle.
Santa Monica Mountains, im Frühling 2021
Gedicht-Duett: Zwei Seiten – zu Niemandskinder